Die Süchte der Deutschen 2021

Alkohol, Koffein, Nikotin – für viele gehören sie als Genussmittel zum Alltag. Andere finden Zerstreuung und Entspannung beim Shopping oder beim Naschen von Süßigkeiten, beim Fernsehen oder Daddeln am Computer oder Handy.

Zum Inhalt springen

Alkohol, Koffein, Nikotin – für viele gehören sie als Genussmittel zum Alltag. Andere finden Zerstreuung und Entspannung beim Shopping oder beim Naschen von Süßigkeiten, beim Fernsehen oder Daddeln am Computer oder Handy.

Zum Inhalt springen

Aber wann werden gelegentliche Freuden zu Gewohnheiten, die sich nicht mehr so leicht ablegen lassen? Und wer ist besonders anfällig für welche Verlockung? Wir wollten wissen, wie es um das Suchtverhalten der Deutschen bestellt ist.

Dabei haben wir natürlich auch danach gefragt, wie die Corona-Krise das Verhalten der Menschen verändert. Sind Frauen, Männer, Jüngere und Ältere in der Pandemie anfälliger für den Konsum von Genussmitteln geworden? Nutzen sie angesichts von Kontaktbeschränkungen verstärkt digitale Medien? Und welche Rolle spielen soziale Netzwerke im Lockdown?

Mit unserer Studie möchten wir zeigen, wie sich der Konsum und die Nutzung potenzieller Suchtmittel in den vergangenen Jahren entwickelt haben und welchen Einfluss die Corona-Pandemie aktuell darauf hat. Dabei ist auch der Vergleich mit den Ergebnissen unserer Sucht-Studie aus dem Jahr 2017 sehr hilfreich.

Uns ist es wichtig, Verständnis für das Suchtverhalten anderer zu wecken und zugleich zur Selbstreflexion anzuregen. Wir möchten, dass die Menschen an sich selbst beobachtete Verhaltensmuster besser einordnen können und zeitliche Entwicklungen erkennen.

Unsere Aufgabe als Krankenkasse ist es, für die Menschen da zu sein. Wer in eine Suchtproblematik gerät, soll schnell Hilfe von uns erhalten.

Prof. Dr. Heino Stöver leitet das Institut für Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences. Der Experte für sozialwissenschaftliche Suchtforschung ordnet die Studienergebnisse für die Pronova BKK ein.

Stövers Arbeitsschwerpunkte liegen in Bereichen der Drogenhilfeangebote und der Drogenpolitik. Er ist Träger des Forschungspreises 2017 der Hessischen Hochschulen sowie des Scientific Award 2017 des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA), sowie des Publikationspreises 2020 der „Stiftung - Forschung - Bildung Frankfurt University of Applied Sciences (FRA-AUS).

Alkohol gilt vielen Deutschen als harmloser Alltagsbegleiter

Vier von zehn Deutschen trinken mindestens einmal pro Woche Alkohol. Von zehn Männern sind es fünf, die mindestens wöchentlich trinken, unter zehn Frauen drei. Mit der Bildung nimmt auch der Alkoholkonsum zu: Jeder zweite Bundesbürger mit Hochschulabschluss trinkt jede Woche.

16 Prozent der Deutschen sind abstinent: Sie rühren Alkohol nicht an. Knapp ein Viertel trinkt dagegen mehrmals pro Woche. Sechs Prozent greifen sogar täglich zu einem alkoholischen Getränk. Dabei liegt Deutschland im weltweiten wie auch im EU-Vergleich beim Pro-Kopf-Alkoholkonsum seiner Einwohner in der Spitzengruppe. Auf 10,5 l reinen Alkohol bringen es die Deutschen laut DHS (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen) im Schnitt pro Jahr.

Sorglos im Familien- und Freundeskreis

Alkohol gehört für viele Erwachsene ganz selbstverständlich zum Leben dazu: In jedem dritten engeren Familien- oder Freundeskreis wird öfter mal getrunken, in jedem sechsten manchmal auch ein Glas zu viel. Gut die Hälfte der Befragten betrachtet diese Gewohnheiten als gesundheitlich unbedenklich. Ein Viertel ist der Meinung, dass mehr als zwei Gläser pro Tag für Männer kein gesundheitliches Risiko darstellen. Ein Drittel glaubt, dass mehr als ein Glas für Frauen unbedenklich ist. Dabei wird das Gesundheitsrisiko häufig unterschätzt. Das Feierabendbier oder ein Glas Wein zum Essen werden zu Unrecht für harmlos gehalten. Eine schädliche Wirkung auf die Leber zum Beispiel tritt aber bei Männern bereits ab zwei Gläsern Wein oder einem großen Bier am Tag ein. Für Frauen liegt die kritische Grenze sogar nur bei der Hälfte dieser Menge.

Männer greifen eher zur Flasche

Männer neigen eher zum Trinken als Frauen: 50 Prozent der männlichen Befragten konsumieren mindestens einmal die Woche Alkohol, bei den weiblichen Befragten ist dies nur bei 30 Prozent der Fall. Unter denjenigen, die keine Woche ohne Alkohol verleben, sind besonders viele Akademiker: Jeder Zweite mit Hochschulabschluss zählt zu den wöchentlichen Konsumenten, jedoch nur gut jeder Vierte ohne oder mit einfachem Schulabschluss. „Ein Glas Wein oder Bier am Ende eines langen Arbeitstags zum Runterkommen: Alkohol wird häufig zur Stressbewältigung konsumiert“, sagt Heino Stöver, Leiter des Instituts für Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences. „Zwar trinken Männer im Schnitt mehr und häufiger als Frauen. Aber Untersuchungen zeigen, dass zum Beispiel Frauen in Führungspositionen besonders anfällig sind.“

Wo Alkohol zur Gefahr wird

Einige Gefahren des Alkohols sind den Menschen allerdings sehr bewusst. Die Studie zeigt, wo die Menschen die Risiken hauptsächlich sehen: im Alkohol am Steuer, im übermäßigen Trinken sowie im Missbrauch durch Jugendliche. So werden Sanktionen und Maßnahmen gegen das Trinken von einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung befürwortet. 87 Prozent sind für härtere Strafen für Autofahren unter Alkoholeinfluss; 65 Prozent würden es gut finden, wenn die Grenze von aktuell 0,5 auf 0,0 Promille abgesenkt würde. 74 Prozent sind dafür, dass Bier, Wein und Sekt nicht mehr an 16- und 17-Jährige ausgeschenkt werden, Schnaps und Hochprozentiges würden 69 Prozent der Befragten lieber erst an Erwachsene ab 21 Jahren verkaufen. Ein abendliches Verkaufsverbot für alkoholische Getränke und ein Alkoholverbot in der Öffentlichkeit würde jeder Zweite begrüßen. Nur die Abgabe von Alkohol ausschließlich in lizensierten Geschäften lehnt eine Mehrheit der Befragten ab.

Männer sind eher gegen Beschränkungen, Frauen stehen für mehr Restriktionen ein. „Frauen vertreten rigidere Konzepte bei Präventionsmaßnahmen. Zu Recht, denn die erweisen sich in der Praxis auch als wirkungsvoller“, sagt Experte Stöver. So sind 90 Prozent der Frauen dafür, Alkohol am Steuer härter zu bestrafen – aber nur 84 Prozent der Männer. 80 Prozent der Frauen, aber nur 69 Prozent der Männer befürworten den Verkauf alkoholischer Getränke erst ab 18 Jahren. 73 Prozent der Frauen und 65 Prozent der Männer sind für Hochprozentiges erst ab 21 Jahren.

Alkohol aus Corona-Frust?

Die Corona-Krise hat den Alkoholkonsum der Deutschen insgesamt nicht unbedingt erhöht. Interessant ist der Blick auf die Details: Während zehn Prozent sagen, dass sie seit Beginn der Krise mehr Alkohol trinken, haben 14 Prozent ihren Konsum von Bier, Wein und Co reduziert. Besonders extrem zeigen sich die gegenläufigen Entwicklungen in der Gruppe der unter 30-Jährigen: Ein Fünftel trinkt mehr, ein Fünftel weniger als vor der Krise. Der Grund liegt in den veränderten Trinkgewohnheiten seit Pandemie-Beginn: Anlässe in größerer Runde, bei Feiern oder beim Ausgehen sind weggefallen, dafür bleibt mehr Zeit zu Hause, die sich manch einer mit vermehrtem Alkoholkonsum vertreibt.

Aus Stövers Sicht ist es nicht verwunderlich, dass insgesamt in der Corona-Krise weniger Alkohol getrunken wird. „Die Alkoholmengen, die außerhalb der eigenen vier Wände bei Anlässen und beim Ausgehen getrunken werden, können im Lockdown kaum zu Hause erreicht werden“, sagt Stöver. Mit den geselligen Runden fällt für viele Menschen auch das Bedürfnis weg, überhaupt Alkohol zu trinken. Bei anderen greift die soziale Kontrolle zu Hause etwa durch den Partner oder die Familie. „Anders sieht das in Single-Haushalten aus. Hier könnte es schwierig werden, wenn Alleinlebende im Homeoffice arbeiten, sich möglichweise isoliert fühlen und dann vermehrt zu Alkohol greifen. Soziale Kontrolle gibt es dann kaum“, sagt Stöver.

Auswege aus dem Übermaß

Wer im Corona-Lockdown zu häufig zu tief ins Glas schaut, muss nach Einschätzung von Stöver trotzdem nicht zwangsläufig eine Suchthilfestelle ansteuern. „Die meisten Menschen, die phasenweise zu viel Alkohol trinken, kommen da auch wieder raus. Wichtig ist es, moderates Trinken einzuüben und sich risikobewusst zu verhalten“, sagt Stöver.

Corona-Krise steigert Kaffeedurst

Der Konsum koffeinhaltiger Getränke hat sich seit Krisenbeginn allerdings deutlich erhöht. 16 Prozent sagen, dass sie mehr Koffein zu sich nehmen, nur fünf Prozent haben ihren Konsum gedrosselt. Koffein ist das in Deutschland am häufigsten konsumierte Genussmittel vor Alkohol und Nikotin. „Die Menschen scheinen das Bedürfnis zu haben, mit dem Aufputschmittel Kaffee wacher den neuen Alltag zum Beispiel im Homeoffice meistern zu können“, sagt Stöver. Seine Bilanz: „Insgesamt deutet die aktuelle Bevölkerungsbefragung darauf hin, dass die Deutschen alles in allem recht gut durch die Krise gekommen sind – mit weniger Alkohol, aber mehr Kaffee.“

Griff zum Glimmstängel

Tendenziell wird aber krisenbedingt mehr geraucht. Acht Prozent greifen häufiger zur Zigarette, vier Prozent seltener. „Hier macht sich bemerkbar, dass die Menschen in der Corona-Pandemie weniger in der Öffentlichkeit unterwegs und seltener im Büro sind, wo Rauchverbote den Nikotinkonsum begrenzen“, sagt Stöver.

Was den Zigarettenkonsum angeht, liegt Deutschland beim Pro-Kopf-Verbrauch im Schnitt vor vielen seiner europäischen Nachbarn. 27,5 Prozent der Erwachsenen in Deutschland sind Raucher. „Zugleich wird der Konsum hierzulande besonders wenig beschränkt, die Bundesrepublik ist bei der Tabakkontrolle ein Entwicklungsland. In kaum einem Staat ist es zum Beispiel für Jugendliche so einfach, an Zigaretten zu kommen. Dazu tragen auch die mehr als 300.000 Zigarettenautomaten bei, die es so nur in Deutschland gibt. Tabakwerbung ist immer noch erlaubt“, sagt Stöver.

Potenziell tödliche Risiken

Auch wenn sie von vielen Deutschen unterschätzt werden, Alkohol und Nikotin sind keineswegs harmlos. Analysen gehen von jährlich etwa 74.000 Todesfällen in Deutschland durch Alkoholkonsum allein oder bedingt durch den Konsum von Tabak und Alkohol aus. An den Folgen des Tabakkonsums sterben hierzulande jährlich mehr als 127.000 Menschen.

Digitale Medien: Das Smartphone ist der wichtigste Begleiter durch die Corona-Krise

Für die Mehrheit der Deutschen vergeht kein Tag ohne den Blick auf einen Bildschirm. Das gilt mehr denn je in der Corona-Krise, denn der Kontakt zu anderen läuft in vielen Fällen nur noch über Videoschalten. Der Pandemie-Alltag hat die Nutzung digitaler Medien und Kommunikationswege noch verstärkt. Zwei Drittel der Bevölkerung surfen täglich im Internet. Eine Mehrheit der Deutschen schaut zudem täglich Fernsehen oder Videos oder tauscht sich mit anderen über WhatsApp und andere Messenger-Dienste aus. Ob Streaming oder Fernsehen, der Video-Konsum hat in der Corona-Krise deutlich zugenommen. Das sagen 35 Prozent der Deutschen. Fast ebenso viele sagen von sich, dass sie auch mehr im Internet surfen als vor der Pandemie. „Mehr Zeit vor dem Bildschirm, das sind ganz eindeutig Bewältigungsstrategien des Eingeschlossen-Seins“, sagt Experte Stöver.

Auch die Nutzung von Smartphone-Messengern wie WhatsApp und von sozialen Netzwerken wie Instagram hat kräftig zugenommen. Besonders ausgeprägt ist der Anstieg bei den jungen Deutschen. Rund zwei Drittel der unter 30-Jährigen beobachten bei sich selbst mehr Streaming und Fernsehen, mehr Surfen im Netz sowie auch mehr Zeit in sozialen Netzwerken.

Nicht ohne mein Smartphone

Fast jeder besitzt heute ein Smartphone, die Nutzung hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Die Corona-Krise hat diesen Trend noch einmal beschleunigt: Mehr als jeder Dritte hängt seit Beginn der Pandemie häufiger am Smartphone als vorher. Vor allem die unter 30-Jährigen legen ihr Handy kaum noch aus der Hand: 72 Prozent nutzen es mehr als vor der Krise.

Die Hälfte der Deutschen kann sich ein Leben ohne Smartphone schlicht nicht mehr vorstellen. Bei der Befragung vor vier Jahren war es erst ein Drittel. Bei den unter 30-Jährigen sind es heute sogar drei Viertel Befragten, die nicht mehr ohne ihr Handy leben könnten. Fast jeden Dritten befällt Panik, wenn er sein Smartphone gerade nicht zur Hand hat. Die Nutzung ist zur Gewohnheit geworden. 43 Prozent erwischen sich dabei, wie sie nach einer gewissen Zeit automatisch auf das Smartphone schauen. Morgens gilt der erste Blick dem Handy und abends der letzte, das berichten 41 Prozent. 37 Prozent checken regelmäßig auch auf der Arbeit ihre Nachrichten. Unter den Jüngeren bis 30 Jahren sind diese Verhaltensweisen noch viel ausgeprägter. 31 Prozent der Befragten insgesamt und sogar 74 Prozent der unter 30-Jährigen gestehen, dass sie ihr Smartphone sogar häufig mit aufs Klo nehmen. Vor vier Jahren haben das erst 25 Prozent der Deutschen getan.

Kontrolle zurück erobern

„Bei dieser sehr starken Nutzung liegt in vielen Fällen eine Impulskontrollstörung vor“, erklärt Stöver. „Den Betroffenen gelingt es kaum mehr, das Smartphone beiseite zu legen. Sie können sich nicht zügeln und lassen sich von dem Gerät dominieren.“

Digitale Medien durchdringen zunehmend auch das Familienleben. Knapp zwei Drittel der Eltern erlauben ihren Kindern zum Zeitvertreib in der Corona-Krise eine großzügigere Nutzung, um Videos zu schauen, zu chatten oder zu spielen. „Es bringt nichts, digitale Medien generell zu verteufeln. Smartphone & Co erfordern aber neue Regeln im Zusammenleben, eine neue Etikette – gerade im Familienleben“, sagt Experte Stöver. Viele Eltern bemühen sich bereits darum, wie die Studie zeigt. In 65 Prozent der Familien gilt ein striktes Smartphone-Verbot zu den Mahlzeiten am Tisch, 55 Prozent wollen selbst ein gutes Vorbild für den Nachwuchs sein. Experte Stöver plädiert für bewussten Konsum digitaler Medien und für einen dosierten und unterbrochenen Einsatz der Geräte. „Wer sich nicht von dem Gerät treiben lässt, kann dem Kontrollverlust vorbeugen oder ihn beenden“, sagt Stöver. „Dabei kann zum Beispiel helfen, bewusst für sich selbst Zeiten festzulegen, in denen das Smartphone tabu ist.“

Serviceangebote, Rufnummern und Links der Pronova BKK

Phone circle

Pressekontakt

Nina Remor

Pressereferentin

Pronova BKK
Horst-Henning-Platz 1
51373 Leverkusen

0214 32296-2305

0162 2005441

presse@pronovabkk.de