Pronova BKK: In 84 Prozent der Haushalte haben alle Kinder alle von der Stiko empfohlenen Impfungen erhalten. Bei Corona-Impfungen sind Eltern gespaltener Meinung. Jetzt ist die Stiko-Empfehlung für Kinder ab 12 Jahren da. Sind Eltern unter Druck?
Corinna Mühlhausen: Covid-19 ist eine besonders dramatische Krankheit, noch nie wurde eine Impfung so stark diskutiert und so offen mit Ängsten umgegangen. Die soziale Kontrolle erschwert die Abwägung von Risiken. Viele Familien müssen sich rechtfertigen, wenn sie sich gegen eine Impfung von Kindern entscheiden. Hier hilft es, miteinander zu sprechen. Langfristig wird die Zeit der Pandemie beeinflussen, wie die Kinder mit den Themen Impfung und Vorsorge umgehen, wenn sie selbst erwachsen sind. Es ist zu erwarten, dass das gesundheitsbewusste Verhalten künftig einen immer höheren Stellenwert erhält.
Pronova BKK:Sind die Kinder nicht noch zu jung für so viel Verantwortung?
Corinna Mühlhausen: Wenn sie im Dialog mit ihren Eltern sind, nicht. Es ist ein positiver Effekt, dass in Familien offener über medizinische Themen und auch die psychische Gesundheit gesprochen wird. Die 10- bis 15-Jährigen waren besonders von den Folgen der Pandemie betroffen. Sie hatten weniger Gelegenheit, ihre Freunde zu treffen und mussten im Lockdown viel Zeit mit Eltern verbringen, von denen sie sich ja eigentlich abnabeln wollen. Eltern wurde überdeutlich vor Augen geführt, dass ihre Kinder sie als Gesprächspartner und Anker brauchen.
Pronova BKK:Nach den Lockdowns freuen sich die Familien laut Studie besonders über die Öffnungen von Schule und Kita. Hat sich die Bedeutung von Bildung gewandelt?
Corinna Mühlhausen: Die letzten Monate haben Eltern vor Augen geführt, welche facettenreichen Aufgaben das Bildungssystem im Leben der Kinder übernimmt. Schulen und Kitas sind ein stabilisierender Rahmen für das Aufwachsen und die Entwicklung. In der Folge wird sich das System verändern. Mentale Gesundheit wird wichtiger werden. Es wird ein neuer Beruf an der Schnittstelle zwischen Lehrer, Erziehern und Sozialpädagogen entstehen, der die Bereiche zum Wohle der Kinder besser vernetzt.
Pronova BKK: Besonders die Eltern freuen sich auch darüber, dass Kinder jetzt wieder mehr Alternativen zum Medienkonsum haben. Aber kommen sie ohne Smartphone und Co noch zurecht?
Corinna Mühlhausen: In der Pandemie hat sich das soziale Miteinander zwangsläufig auf Medien verlagert. Die Generation Z kann und will nicht mehr ohne die digitalen Helfer. Hier braucht es Impulse, am besten von Vorbildern wie Youtubern, die einen kritischen Blick auf den Medienkonsum wagen und zu einer Medienpause einladen. Die Kinder sind heute besser zu einer ganzheitlichen Betrachtung der psychischen und physischen Folgen in der Lage.
Pronova BKK: Die Studie zeigt aber auch, dass zu Hause mehr gesprochen, mehr zusammen unternommen oder gespielt wurde. Wird das auch nach Corona bleiben?
Corinna Mühlhausen: Es ist möglich, dass gemeinsame Aktivitäten privat Bestand haben. Doch das muss gelebt werden, sonst stellen sich schnell die Vor-Covid-Rituale ein. Vielleicht fanden es die Familienmitglieder schön, Brettspiele zu spielen, Jugendliche haben das Kochen oder Backen entdeckt. Das sollten sie auch nach der Krise aktiv weiterbetreiben.
Pronova BKK: Als alle mehr zu Hause waren, haben sich auch Aufgaben und Rollen im Haushalt verschoben. Gibt es jetzt ein Zurück zu traditionellen Rollen oder sind langfristig neue Modelle entstanden?
Corinna Mühlhausen: Es gab beide Entwicklungen. Die Studie zeigt, dass die Pandemie besonders für Frauen eine anstrengende Zeit war, die oft überfordert mit Homeoffice und Homeschooling waren. An den Rollenbildern der Kinder hat sich etwas verändert: Der Vater war plötzlich häufiger zuhause, es gab eine neue Form von Miteinander. Schon jetzt ermöglichen viele Firmen Vertrauensarbeitszeiten und Home Office. Spätestens wenn die heutigen Kinder in den Beruf einsteigen, werden sie neue Spielregeln in der Arbeitswelt auch bei den Firmen erzwingen, die jetzt nur das gesetzliche Muss angeboten haben.