Dr. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vom Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN), ordnet die Studienergebnisse ein.
„Jeder Mensch hat eine bestimmte Stressschwelle, die von individuellen, biologischen und Sozialentwicklungs-Faktoren abhängt. Wenn der persönliche Stresslevel überschritten wird, kann jeder psychische Erkrankungen entwickeln. Wir erklären das mit dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell. Kurz gesagt beinhaltet dieses die Aussage, dass Menschen, die ohnehin weniger stabil sind und über weniger Resilienz-Faktoren verfügen, besonders gefährdet sind.“
Terminanfragen in Praxen und Kliniken haben vor allem im dritten Quartal 2020 zugenommen. Drei Viertel der Psychiater und Psychotherapeuten stellen sich auf einen Corona-bedingten Anstieg psychischer Erkrankungen in den kommenden zwölf Monaten ein.
„Ich bin von dem Ansturm nicht überrascht. Während im Frühjahr viele aufgrund der ungeahnten Krisensituation erstmal im Überlebensmodus waren und im Sommer auf Entspannung gehofft hatten, zeigen sich nun mit der zweiten Welle Folgeerkrankungen der Pandemie wie Ängste, Depressionen, Zwangsstörungen und Suchterkrankungen.“
Die Corona-Pandemie verstärkt psychische Beschwerden wie Ängste, Überforderung oder Nervosität.
„Menschen, die es schon vor der Krise nicht leicht hatten, werden nun von ihr besonders schwer getroffen. Stabilisierende Faktoren brechen weg: Zum Beispiel müssen Patienten auf den gewohnten Alltag verzichten oder auch auf Therapiegruppen, die wegen der Kontaktbeschränkungen ausfallen mussten. All das bedeutet Stress für die Patienten und lässt psychische Beschwerden stärker aufflammen.“
Der Corona-Alltag bringt Stressmomente für die Seele mit sich. Dazu zählen soziale Isolation durch eingeschränkte Kontakte zu Freunden, Kollegen und Familie, Homeoffice und Kinderbetreuung oder Homeschooling, familiäre Konflikte und räumliche Enge zu Hause, aber auch finanzielle Sorgen, Zukunftsängste und die Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.
„Besonders gefährdet, psychisch zu erkranken, sind Mütter und Senioren sowie Menschen in der ersten Phase ihres Berufslebens. Wer heute in den Job startet, hat nicht selten eine mehrjährige Ausbildung hinter sich. Es stehen die ersten Karriereschritte an. Im Privatleben rückt für viele die Familiengründung näher. In dieser Rush Hour des Lebens sind Menschen besonders verwundbar durch soziale Umwälzungen, wie z. B. die Folgen der Corona-Krise, der Druck ist sehr groß. In den Familien wächst der Druck auf Frauen, weil sie den Großteil der Aufgaben zu Hause übernehmen. Dazu gehört in Zeiten geschlossener Kitas und Schulen auch die Kinderbetreuung. In der Krise wirken traditionell festgelegte Rollen stärker. Wir verfallen gesellschaftlich in Versorgungsstrukturen, die wir eigentlich längst hinter uns haben sollten. Senioren leiden besonders, weil sie einerseits somatisch gefährdet sind und ihnen andererseits die Einsamkeit zusetzt. Ihr soziales Netz ist häufig dünner“, so Dr. Sabine Köhler.
Ärzte und Therapeuten beobachten in der Krise vermehrt Alkoholprobleme. Patienten, die schon vor der Krise wegen psychischer Probleme in Behandlung waren, greifen vermehrt zu Bier, Wein oder Spirituosen.
„Dem Alkoholismus liegen häufig psychische Beschwerden wie Angsterkrankungen zugrunde. Zur Stressbewältigung greifen die Betroffenen zur Flasche. Feste Routinen, ein soziales Netz und Selbsthilfegruppen helfen, die Alkoholsucht in den Griff zu bekommen. Um trocken zu bleiben, sind diese Strukturen für Alkoholiker wichtig – in der Corona-Krise aber vielfach weggebrochen. Deshalb sind Alkoholiker stark gefährdet, einen Rückfall zu erleiden.“
Darüber hinaus sind auch bisher unbelastete Menschen durch die Krise stärker gefährdet, in die Abhängigkeit zu rutschen. Das Glas Wein am Abend zur Entspannung oder um besser einschlafen zu können kann leicht zur Gewohnheit werden. Die Entwicklung einer Suchterkrankung verläuft dabei fließend und ist unter anderem von der Menge und der Häufigkeit des Konsums abhängig. So gelten bei Frauen schon ein Glas Wein und bei Männern zwei Gläser Bier pro Tag als gesundheitlich bedenklich.