Interview mit Psychologin Patrizia Thamm
Pronova BKK: Frau Thamm, trotz vielfältiger Gegenstimmen in der Öffentlichkeit wünscht sich jede und jeder zweite Beschäftigte weiterhin Maskenpflicht und Coronatests am Arbeitsplatz. Geben sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Sicherheitsgefühl oder sind sie bloß Gewohnheit?
Patrizia Thamm: Beides trifft zu. Wir haben uns die vergangenen zwei Jahre an ein „neues Normal“ gewöhnt. Das heißt, die Corona-Maßnahmen empfinden wir nicht mehr als so lästig wie zu Beginn der Pandemie. Uns wurde in der Zeit der Pandemie zudem viel Kontrolle abgesprochen. Deshalb bedeuten die Schutzmaßnahmen auch eine Chance, wieder mehr Kontrolle zurückzugewinnen, indem wir Gefühlen von Angst und Verunsicherung konstruktiv begegnen können und ihnen nicht passiv ausgeliefert sind.
Pronova BKK: 64 Prozent wollen der Studie zufolge nicht dauerhaft überwiegend von zuhause arbeiten. Sind die Deutschen homeoffice-müde?
Thamm: Absolut. Egal, wie viele Vorteile das Homeoffice mit sich bringt, es ist mittlerweile auch ein Stück weit entzaubert. Wir merken nun, der schnelle und unkomplizierte Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen fehlt uns. Das soziale Netzwerk auf der Arbeit stellt normalerweise eine große Kraftquelle dar, wirkt motivierend und ist im besten Fall auch ein Glücksgenerator. Wenn mal etwas schiefläuft oder schwierig ist, hilft uns das gegenseitige Mitgefühl und die Unterstützung. Das gelingt auf persönlicher Ebene einfach besser und kann im digitalen Raum nicht gänzlich aufgefangen werden.
Pronova BKK: Laut Umfrage sind Homeoffice und virtuelle Meetings Gift für den Zusammenhalt vor allem unter jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Wie kann die Zusammenarbeit auf Distanz verbessert werden?
Thamm: Auch im digitalen Raum kommt es auf Team-Spirit an. Förderlich sind digitale Formate wie die virtuelle Kaffeepause, das virtuelle Mittagessen oder die virtuelle Feierabendrunde. Es ist auch wichtig, kontinuierlich zu überprüfen, wie die Kommunikation und das Miteinander im Team erlebt wird und wie mit den neuen ganz unterschiedlichen Erfahrungswelten im Gepäck auch digital gut zusammengearbeitet werden kann. Entsprechende Reflexionsräume unterstützen einen empathischeren und achtsameren Umgang miteinander.
Pronova BKK: Jeder Zehnte geht trotz Corona zur Arbeit, insgesamt kurieren sich 72 Prozent nicht vollständig aus. Was hat das für Folgen für die Beschäftigten?
Thamm: Ganz klar, wer mit Corona zur Arbeit geht, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch das gesamte Team. Daher gilt, wer Corona hat, sollte zwingend zuhause bleiben und sich auskurieren.
Pronova BKK: Trotz der Möglichkeit im Homeoffice zu bleiben, kommt mehr als ein Drittel der Menschen mit leichten Erkrankungen an den Arbeitsplatz und nehmen die Ansteckung ihrer Kolleginnen und Kollegen in Kauf. Warum?
Thamm: Die Gründe können ganz verschieden sein. Da wäre die Angst um den eigenen Arbeitsplatz, der eigene hohe Erwartungsdruck, ein hoher Arbeitsrückstand und das Gefühl, die Kolleginnen und Kollegen nicht im Stich lassen zu wollen. Das hohe Verantwortungsgefühl wird dann über die eigene Gesundheit und Ansteckungsgefahr gestellt. Es kann aber auch sein, dass die lange Isolation und die Lockerungen die Menschen mittlerweile etwas leichtsinniger sein lassen und das Risiko andere anzustecken in Kauf genommen wird. Stichwort Homeoffice-Müdigkeit. Aber noch mal ganz klar die Bitte, mit Corona wirklich zuhause zu bleiben und sich auszukurieren.
Pronova BKK: Jüngere fühlen sich häufiger im Job gestresst als Ältere. Woher kommt das?
Thamm: Während der Pandemie hat die mentale und physische Gesundheit junger Menschen extrem gelitten. Sie durften ihre Freunde nicht treffen und mussten auf soziale Kontakte verzichten, die extrem wichtig für die Entwicklung sind. Die Online-Welt kann zwar einiges „abpuffern“, aber nicht alles. Ein weiteres Thema sind die Zukunftsängste dieser Generation. Die Angst etwa, die erforderlichen Leistungen in Ausbildung und Studium durch ausgefallene Präsenzzeiten nicht erbringen zu können oder auch die Angst, dass sich die Jobchancen insgesamt verschlechtert haben, sodass der Einstieg in die Berufswelt hürdenreich und die Gestaltung der beruflichen Zukunft schwierig ist. All diese coronabedingten Unsicherheiten fördern Stress.
Pronova BKK: Mehr als ein Drittel hat ihren Job in den vergangenen zwei Jahren gewechselt. Sind die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wechselwilliger geworden?
Thamm: Die Corona-Pandemie war für viele Menschen auch eine Job-Krise. Es gab Insolvenzen, ganze Branchen lagen still. Etliche Menschen waren schlicht gezwungen, sich beruflich umzuorientieren. Meines Erachtens hat Corona aber auch als Beschleuniger bei all denen gewirkt, die schon vor der Pandemie unzufrieden im Job waren. Die haben sich auf die Suche begeben. Dahinter steht auch eine veränderte Priorisierung der Werte. In Krisen wie der Pandemie oder im Krieg werden elementare Bedürfnisse wieder wichtiger. Wir hinterfragen stärker, was der Sinn des Lebens ist und ob der Job noch glücklich macht. Hinzu kommt, dass wir während der Pandemie viel mehr Zeit und Raum besaßen, neue Möglichkeiten zu entdecken. Damit wurden Veränderungen greifbarer, sodass sich der ein oder andere umorientiert hat.
Pronova BKK: Berufstätige schätzen ihr Burnout-Risiko höher ein als noch vor zwei Jahren. Was treibt diesen Trend?
Thamm: Das Berufsleben ist mit seinen Anforderungen enorm komplex geworden. Seit der Pandemie sind wir anderen Einflüssen ausgesetzt. Dazu zählt auch die Entgrenzung von Arbeit und Privatem, das ein höheres Gesundheitsrisiko darstellt. Wer mehr Stress hat, der läuft auch Gefahr, psychisch zu erkranken. Im Homeoffice gestaltet es sich viel schwieriger vom beruflichen Alltag abzuschalten – und das kann auch das Burnout-Risiko erhöhen. Hier muss Jede und Jeder noch viel stärker auf sein persönliches Energielevel achten und Selbstfürsorge betreiben.
Pronova BKK: Welche Tipps haben Sie, um Arbeit und Privates zuhause besser voneinander zu trennen?
Thamm: Feste Strukturen schaffen und klar kommunizieren. Entfällt der Arbeitsweg, ließe sich dieser beispielsweise durch einen kurzen Spaziergang am Morgen ersetzen. Die Mittagspause sollte zuhause ebenso eingebaut werden wie im Büro. Mikro-Erholungen helfen dem Körper zu regenerieren. In Familien ist es zusätzlich wichtig, feste Arbeitszeiten zu kommunizieren, um sich den Raum zu schaffen, mit Ruhe und Fokus arbeiten zu können.
Pronova BKK: Arbeitende Frauen leiden der Studie zufolge an mehr Stress-Symptomen als Männer – innere Anspannung, Erschöpfung, Reizbarkeit, Selbstzweifel. Warum betrifft dies offenbar die Frauen stärker?
Thamm: Ich führe das vor allem darauf zurück, dass sich Frauen oftmals in ihrer Rolle mehr für das Wohl der Familie, des Partners oder auch des Teams verantwortlich fühlen und sich über die Beziehungsarbeit mehr Gedanken machen. Dieser Mental Load, der zusätzlich zum Erwerbsleben anfällt und vielfach unsichtbar bleibt, kann einen wesentlichen zusätzlichen Stressfaktor ausmachen. Hinzu kommt oft der hohe eigene Erwartungsdruck von Frauen, viel Einsatz und Engagement zeigen zu müssen, um auf der Karriereleiter empor zu klettern. Grundsätzlich bin ich aber auch davon überzeugt, dass der Unterschied deshalb so auffällt, weil Frauen es oftmals bei Stress leichter fällt, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und ihre Belastung zu teilen. Das führt dazu, dass Frauen – auch wenn sie oft mehr Stress empfinden – diesen nicht nur besser zum Ausdruck bringen, sondern auch wirksamer verarbeiten können.