Eine aktuelle repräsentative Studie der pronova BKK beschäftigt sich mit dem Thema geschlechtersensible Medizin. Die Ergebnisse zeigen, dass das grundlegende Wissen über Unterschiede bei Krankheitssymptomen oder die Wirkung von Medikamenten bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Konkrete Informationen fehlen jedoch. Wir haben Professorin Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, Inhaberin des Lehrstuhls für gendersensible Medizin an der Universität Bielefeld und der Radboud-Universität Nijmegen um eine Einordnung gebeten.
Pronova BKK: Laut unserer Studie gehen 83 Prozent der Deutschen davon aus, dass Männer und Frauen unterschiedliche Krankheitssymptome haben können. Vor allem Frauen rechnen damit. Doch worin diese Differenzen genau liegen, ist weniger bekannt. Können Sie uns aufklären?
Oertelt-Prigione: Nicht alle Frauen haben andere Symptome, aber es kann vorkommen. Das klassische Beispiel ist der Herzinfarkt, der quasi den Startschuss für die Entwicklung der geschlechtersensiblen Medizin darstellt. Die Hauptsymptomatik für beide Geschlechter sind Brustschmerzen. Vor allem bei jüngeren Frauen traten diese jedoch weniger auf, sie haben statt dessen atypische Symptome wie Übelkeit und Schwindel. Die betroffenen Frauen und auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte können häufig die Gefahr nicht richtig einschätzen, in der Vergangenheit hat dies zu Fehldiagnosen und zu mehr Todesfällen geführt. Ein weiteres Beispiel ist Asthma: Typisch ist das sogenannte Giemen, ein Pfeiffen beim Ausatmen. Doch das wird vor allem bei Jungen festgestellt, Mädchen klagen eher über trockenen Husten in der Nacht.
Pronova BKK: Gibt es denn auch Krankheiten, bei denen die Symptome von Männern von der medizinischen Norm abweichen?
Oertelt-Prigione: Die gibt es genauso. Autoimmunerkrankungen treten eher bei Frauen auf, darum werden sie bei Männern schwerer diagnostiziert. Auch Osteoporose gilt als Frauenleiden. Obwohl 30 bis 40 Prozent der Männer über 70 Jahren daran leiden, werden sie nicht systematisch daraufhin untersucht. Häufig stellen Ärzte die Diagnose erst, wenn keine präventive Therapie mehr möglich ist und schon Knochen gebrochen sind.
Pronova BKK: Nicht nur bei den Symptomen, auch bei Medikamenten rechnen laut Studie 78 Prozent der Befragten damit, dass die Geschlechter unterschiedlich darauf ansprechen...
Oertelt-Prigione: Frauen leiden generell mehr unter Nebenwirkungen von Pharmaprodukten. Das wurde gesellschaftlich aber lange nicht beachtet. In Studien wurden Medikamente verstärkt an Männern getestet, Geschlechtsunterschiede wurden nicht berücksichtigt. Auch zu Corona haben wir klinische Studien analysiert und festgestellt, dass das Geschlecht hier wenig beachtet wurde, obwohl gesellschaftlich bekannt war, dass Männer und Frauen unterschiedlich betroffen sind. Die geschlechterspezifische Analyse erfolgt auch heute noch zu selten, aber es zeichnet sich ein Wandel bei der Auswahl der Probandinnen und Probanden ab.
Pronova BKK: 67 Prozent der Befragten klagen, dass sie von Ärzten keine Informationen zu unterschiedlichen Wirkungen von Medikamenten erhalten – vor allem Frauen vermissen dies. Und 35 Prozent wurden von Ärzten nach der Schilderung ihrer Symptome nicht ernst genommen.
Oertelt-Prigione: Der Wandel zur personengerichteten Medizin mit dem Ziel, einen kooperativen Prozess zwischen Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten zu schaffen, beginnt erst. Dafür müssen die Medizinerinnen und Mediziner ihre Deutungshoheit aufgeben, die Patienten als Experten für die eigene Gesundheit wahrnehmen und schauen, wie die Therapie individuell am besten passt. Andere Länder wie die Niederlande, Kanada oder Großbritannien sind da weiter. Aber auch die jüngere Generation treibt diesen Wandel voran.
Pronova BKK: Welche weiteren Hebel gibt es, um den Wandel zur geschlechtersensiblen Medizin voranzubringen? 86 Prozent der Befragten sehen den Gesetzgeber in der Pflicht, klare Vorgaben zu machen. Welche können das sein?
Oertelt-Prigione: Eine Veränderung wird tatsächlich nur passieren, wenn es klare Regularien gibt. Ministerien, EU-Kommission und Ärzteschaft müssen tätig werden, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit ist da. Beispielsweise muss die Politik dafür sorgen, dass nur noch Studien finanziert werden, die Geschlecht berücksichtigen. Dort wo die Datenlage bereits gut ist, wie in der Kardiologie, können die Ergebnisse zu geschlechtsspezifischen Unterschieden aufgelistet werden. Fehlendes Datenmaterial sollte gezielt durch neue Studien beschafft werden. So können Leitlinienveränderungen angeschoben und Therapien geschlechterspezifisch angepasst werden.
Pronova BKK: Was wird in diesem Gebiet in nächster Zeit passieren?
Oertelt-Prigione: Mehr Männer kommen in den Bereich der Gendermedizin und mehr Frauen beteiligen sich in der Grundlagenforschung. Die Forschung hat herausgefunden: Je mehr Frauen im Forschungsteam sind, desto eher findet eine geschlechtersensible Analyse statt. Dabei geht es um Paradigmen und um die eigene Sichtweise, die immer mit einfließt. Der Generationenwechsel wird hier noch mehr bewirken. Denn es geht ja nicht nur um „Frauenmedizin“ und eine binäre Betrachtung, sondern künftig verstärkt um alle Geschlechter.