Pronova BKK: Was können Menschen tun, um mit den Dauerkrisen umzugehen und ihre Resilienz wieder zu stärken?
Köhler: Es geht darum, die eigenen Schutzmechanismen, die jede und jeder individuell erlernt hat, zu aktivieren. Dabei kann eine Psychotherapie helfen. Viele machen sich aber auch ohne Therapeut*in auf den Weg, um zu erfahren, was ihnen guttut. Sie machen Achtsamkeitstrainings oder belegen Meditationskurse. Resilienz können wir aber auch zuhause fördern. Dazu ist es wichtig, sich im Alltag Pausen einzubauen oder Kraft schenkende Aktivitäten auszuüben. Dies kann Sport sein, Musik hören oder Malen. Wir sollten uns unsere eigenen Stärken bewusst machen, zum Beispiel indem wir sie aufschreiben oder mit vertrauten Personen darüber reden. Nur zu Hause bleiben und sich abschotten, hilft jedoch nicht. Das ist keine Resilienz. Resilienz bedeutet, mit den Anstrengungen des Lebens und des Alltags gut und besser zurecht zu kommen.
Pronova BKK: In der derzeitigen Krisensituation greifen viele verstärkt zu Alkohol und auch zu Medikamenten sowie mehreren Substanzen gleichzeitig. Was können Menschen tun, um anderen zu helfen?
Köhler: Es muss den Betroffenen gespiegelt und rückgemeldet werden. Ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen ist als erster Schritt hilfreich. Vorwürfe sollten aber vermieden werden, besser sind sogenannte Ich-Botschaften. Formulierungen wie ‚Ich habe den Eindruck, dass…‘ oder ‚Ich beobachte, dass…‘ anstelle von ‚Du trinkst zu viel.‘ verhindern, dass sich Menschen angegriffen fühlen und sich zurückziehen.
Pronova BKK: Was können Menschen tun, die mit einem Gesprächsangebot abgewiesen werden?
Köhler: Sich nicht ermutigen lassen! Dem anderen signalisieren, dass Sie ein offenes Ohr haben. Es geht nicht darum, jemanden zu be- oder verurteilen. Im Gegenteil. Zu erkennen, dass es einem Menschen schlecht geht, ist eine Wertschätzung. Den Betroffenen tut die Rückmeldung meist sogar gut. Sie fühlen sich in ihrer Not gesehen. Menschen sollten die betroffene Person motivieren, sich an eine ärztliche Praxis oder eine Suchtberatungsstelle zu wenden. Bieten Sie vielleicht sogar an, dorthin mitzukommen. Die Beratung ist kostenfrei und anonym und steht auch Angehörigen offen.
Pronova BKK: 93 % befragten Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen gehen zudem davon aus, dass die Dunkelziffer psychischer Probleme sehr hoch ist. Woran erkennen Betroffene, dass es Zeit ist, sich medizinischen Rat einzuholen?
Köhler: Wenn jemand anhaltende Beschwerden von mehr als 2 Wochen hat und diese nicht gut einordnen kann, ist die erste Anlaufstelle die hausärztliche Praxis. Dort kann beispielsweise eingeordnet werden, ob eine Befindlichkeitsstörung oder Konfliktsituation vorliegt, für die nicht unbedingt eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut zu Rate gezogen werden muss. Hausärzt*innen können beraten und mit einem ersten Gespräch schon entlasten. Manchmal handelt es sich um Lebenssituationen, in denen es Unterstützung bedarf, aus denen jemand nicht ohne Hilfe herauskommt. Da geht es weniger um ein medizinisches Problem als um Lebensberatung – manchmal auch Schuldnerberatung. Liegt eine psychische Erkrankung vor, dann verordnen Hausärzt*innen Medikamente und/oder Psychotherapie oder überweisen an Kolleg*innen der psychosomatischen Medizin, Psychotherapie oder Neurologie. Diese Leistungen werden von der Krankenkasse übernommen.